TRÉSOR DE SCULPTURE # 05 (DE)

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Donatello, Maria mit Kind (Pazzi-Madonna), um 1422
Marmor, 74,5 x 73 x 6,5 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung (Bode-Museum), inv. no. 51
© Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst
Antje Voigt CC BY-SA 4.0.

Note : 5 sur 5.

Text : Neville Rowley, Kurator für frühe italienische Kunst, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin.
N.B.: Dieser Text stammt aus dem Katalog der Ausstellung „Donatello, Erfinder der Renaissance“, die 2022 von den Berliner Museen präsentiert wurde.

Bei diesem Werk handelt es sich um eine der bewegendsten Interpretationen des Themas der Madonna in der gesamten Renaissance. Maria schließt ihren Sohn fest in die Arme und drückt ihr Gesicht an seines, eine Geste von großer Zärtlichkeit, die aber auch von Melancholie geprägt ist. Maria ahnt, dass ihr Sohn früh sterben wird, um die Sünden der Menschheit zu sühnen. Das Kind hingegen scheint sich seines Schicksals noch nicht bewusst zu sein: Es lächelt, seine frischen Milchzähne präsentierend, und umklammert den Schleier seiner Mutter mit großer Natürlichkeit. Sein linker Fuß ruht auf dem Rand einer Art Kasten, in dem die beiden Figuren dargestellt sind.

Diese fiktive Rahmung ist das andere bemerkenswerte Merkmal des Reliefs, zusammen mit der innigen emotionalen Beziehung zwischen den Figuren. Nach der Predella des Heiligen Georg für Orsanmichele (Abb. S. 60–61) war dies das zweite Mal, dass Donatello die von seinem Freund Filippo Brunelleschi entwickelte mathematische Perspektive nutzte. Die Fluchtlinien der Nischenränder laufen zwar nicht perfekt in einem einzigen Punkt zusammen – ganz im Gegenteil –, aber die Wirkung ist sehr überzeugend: Von einem niedrigen Standpunkt aus betrachtet, erscheinen Maria und das Kind dreidimensional und buchstäblich aus dem Grund des Reliefs hervorzutreten. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das Werk ursprünglich in einer bestimmten Höhe aufgehängt wurde, auch wenn die Position, für die es geschaffen wurde, immer noch umstritten ist. Laut Wilhelm Bode, der es 1886 im Auftrag der Berliner Museen vom Kunsthändler Stefano Bardini erwarb, stammte das Relief aus einer der Florentiner Residenzen der Familie Pazzi (Bode 1886, S. 203). Im Jahr 1677 erwähnt ein florentinischer Reiseführer tatsächlich eine Madonna von Donatello im Haus von Francesco Pazzi, aber die Beschreibung stimmt nicht ganz mit dem vorliegenden Relief überein (Cinelli 1677, S. 369–370; Catterson 2020 hat diese Provenienz sowie die Echtheit des Reliefs nicht unbedingt überzeugend infrage gestellt).

Das »griechische« Profil der Madonna steht zwei dokumentierten Figuren von Donatello sehr nahe, dem Isaak in der Abraham und Isaak-Gruppe, der 1421 in Zusammenarbeit mit Nanni di Bartolo für den Campanile in Florenz geschaffen wurde (und sich heute im Museo dell’Opera del Duomo befindet, Abb. S. 79) und einer Sibylle, die 1422 für die Porta della Mandorla des Doms angefertigt wurde. Seit ihrer Entstehung wurde die Pazzi-Madonna von vielen florentinischen und toskanischen Künstlern bewundert (Michelozzo in seiner Orlandini-Madonna, ebenfalls aus Marmor und heute in Berlin, Kat. 16; oder Jacopo della Quercia in seiner Flucht nach Ägypten für das Hauptportal der Fassade von San Petronio in Bologna). Ein Dutzend Repliken aus dem 15. Jahr-hundert ist erhalten, sowohl aus Terrakotta als auch aus Stuck. Fast alle verzichten auf zwei der radikalsten Neuerungen dieses Meisterwerks, nämlich die perspektivische Nische und das vollständige Weiß der Oberfläche (zur überraschenden Farbgebung von Donatellos Marmor s. Fehrenbach 2011, S. 51–53). In diesen daraus abgeleiteten Werken bleibt nur die ergreifendste von Donatellos Erfindungen sichtbar: die zarte, aber tragische Intimität zwischen zwei liebenden Gesichtern.


Bibliographie

Bode 1886
Wilhelm Bode, ‘Neue Erwerbungen für die Abteilung der christlichen Plastik in den Königlichen Museen’, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen, 7, 1886, pp. 203–214.

Catterson 2020
Lynn Catterson, ‘Art Market, Social Network and Contamination: Bardini, Bode and the “Madonna Pazzi” Puzzle’, in: Florence, Berlin and Beyond: Late Nineteenth-Century Art Markets and Their Social Networks, ed. by Lynn Catterson, Leiden/ Boston 2020, pp. 498–552.

Cinelli 1677
Le bellezze della città di Firenze, dove a pieno di pittura, di scultura, di sacri templi, di palazzi i piu notabili artifizj e piu preziosi si contengono, scritte già da m. Francesco Bocchi ed ora da m. Giovanni Cinelli ampliate ed accresciute, Florence 1677.

Fehrenbach 2011
Frank Fehrenbach, ‘Coming Alive: Some Remarks on the Rise of “Monochrome” Sculpture in the Renaissance’, in: Source, 30, 2011, no. 3, pp. 47–55.

Janson 1957
Horst W. Janson, The Sculpture of Donatello, Incorporating the Notes and Photographs of the Late Jenö Lányi, 2 vols, Princeton 1957.

Rowley 2022
Neville Rowley, Donatello berlinese, Rome 2022.